Digitale Datenanwendungen für die Zeit nach dem Krieg

Gesa Ziemer berichtet aus dem City Science Lab in Hamburg.

Der folgende Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung vom Tagesspiegel Background und wurde dort am 07. Februar 2024 veröffentlicht.

 

Veröffentlicht am 07.02.2024 – Tagesspiegel Background

 

Daten spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Städte nach dem Krieg wiederaufzubauen, schreibt Gesa Ziemer. Die Beteiligten eines Pilotprojekts in ukrainischen Gemeinden entwickeln auf Grundlage von Software schon während des Kriegs Szenarien für die Zeit danach.

 

Der russische Angriff auf die Ukraine ist nun fast zwei Jahre her und der brutale Krieg dauert leider an. Die Ukraine wird nicht nur militärisch von Deutschland unterstützt, sondern ebenso auf vielen zivilen Ebenen, zum Beispiel vonseiten der Wissenschaft. Auch an meinem Forschungsschwerpunkt Digitale Stadt arbeiten wir im Innovation Technology Accelerator for Cities (Unitac) in Kooperation mit den Vereinten Nationen in der Ukraine. Das dreijährige Projekt heißt Just Transitions in vulnerable Places und wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert. 

Unsere Welt ist von Krisen überzogen, seien diese durch Kriege verursacht oder durch Umweltschäden hervorgerufen, die sich akut in Überschwemmungen, Stürmen oder sinkenden Städten zeigen. Deshalb hat UN-Habitat (UN Human Settlements Programme) sowohl beim letzten World Urban Forum einen großen Bereich zum Thema Krisen eingerichtet, in dem Länder ihre Situationen und Maßnahmen diskutieren konnten, als auch 2022 das Urban Recovery Framework (URF) verfasst. 

Dieses ist ein Schlüsselinstrument zur Verbesserung der Koordinierungsmechanismen und Finanzierungsmöglichkeiten, die erforderlich sind, um in Krisenregionen die Durchführung unmittelbarer und mittelfristiger Maßnahmen zur Reaktivierung städtischer Gebiete zu steuern und gleichzeitig die Grundlagen für eine längerfristige Resilienz zu schaffen. Anhand von Beispielen aus Krisenregionen wie dem Jemen, Syrien, Libanon oder Irak werden diese mit einem ganzheitlichen Ansatz zu Wohnungsbau, Teilhabe von Zivilgesellschaft, Infrastruktur, Umwelt, kulturellem Erbe, Wirtschaft und Formen der Regierung analysiert und im Sinne des Mottos „Building Back Better“ unterstützt.

Mit digitalen Anwendungen Szenarien des Wiederaufbaus diskutieren 

 

Dabei spielen Daten eine entscheidende Rolle, sei es in der Dokumentation von Zerstörung, als Grundlage für Profiling oder Monitoring Tools, um Landbesitz zu bewerten oder um die Routen von Geflüchteten zu analysieren. Häufig geht es dabei um sogenannte „internally displaced persons“ (IDPs), um Menschen also, die innerhalb eines Landes flüchten müssen oder darum, Infrastruktur sowohl baulich als auch sozial zu mappen, um Grundlagen für Planungen nach dem Krieg zu haben. Unser Projekt zielt darauf ab, über Szenarien des Wiederaufbaus des Landes zu diskutieren und dafür digitale Anwendungen zur Verfügung zu stellen. Oder darauf, diese an die lokalen Gegebenheiten anzupassen, damit Expert*innen, lokale Regierungen und die Zivilgesellschaft auch während des Krieges schon darüber diskutieren können. Ausgerichtet ist das Projekt auf Pilotgemeinden (sogenannte Hromadas, ukrainische Verwaltungseinheiten, die mit deutschen Gemeinden vergleichbar sind), aktuell arbeiten wir in Makariv und Borodianka. 

Wir stellen mit Kolleg*innen vor Ort Projektteams zusammen und wenden beispielsweise eine unserer Softwarelösungen für Szenarienbildung an, mit der man zerstörte bauliche oder soziale Infrastruktur virtuell neu planen kann. Die Software analysiert, visualisiert und simuliert Daten und ermöglicht es, durch verschiedene Use Cases beispielsweise aus dem Bereich Daseinsvorsorge Möglichkeiten des Wiederaufbaus wie von Schulen oder Krankenhäusern zu diskutieren. Damit können datenbasierte kollaborative Entscheidungen unterstützt, die Zusammenarbeit zwischen den Behörden gefördert und Vorschläge zu nachhaltiger und klimaresilienter Stadt- und Regionalentwicklung entworfen werden.

Hamburger Beteiligungssystem soll Gespräch vor Ort anregen 

Auch Klimadaten spielen hier eine Rolle. Mit der Verwaltung von Makariv wollen wir das Thema Hochwasserprävention näher beleuchten und ein automatisiertes Warnsystem als Use Case entwickeln. Auch das Thema Ko-Kreation mit Bürger*innen ist von großem Interesse, da es sich hierbei um eine demokratische Praxis handelt, die durch eine aktive Zivilgesellschaft nun eine neue Rolle erhält. Wir starten gerade damit, die in Hamburg entwickelte Software Dipas, ein digitales Beteiligungssystem, vor Ort zu testen, um die städtischen Vertreter*innen und die Zivilgesellschaft in eine Diskussion über Visionen und Prioritäten für den Wiederaufbau einzubeziehen. Alle unsere Anwendungen sollten Schnittstellen zu dem übergeordneten System of Regional Development (GIS) aufweisen, in dem alle staatlichen digitalen Datenbanken versammelt sind. In Kooperation mit unseren Kolleg*innen vom Urban Planning and Design Lab, das direkt bei UN Habitat in Nairobi angesiedelt ist, werden zudem Stadtentwicklungspläne, Gesetzgebung, Governance und Finanzierungsmodelle unterstützt. 

Auf dem Papier klingen alle Rahmenkonzepte notwendig und richtig, man kann sich aber denken, dass die praktische Umsetzung der Vorgaben in einem Kriegsgebiet alle vor große Herausforderungen stellt. Als wir mit der Arbeit begannen, war ich sehr überrascht darüber, wie aufgeschlossen und motiviert viele dem Thema Wiederaufbau gegenüber waren. Es scheint inmitten eines Krieges psychologisch wichtig zu sein, eine Perspektive zu geben und eine Zeit nach dem Krieg zu imaginieren. Dies ist auch unsere Motivation und wir versuchen Räume zu öffnen, in denen so ein Dialog möglich ist. Eine große Schwierigkeit für uns ist, dass wir Wissenschaftler*innen aus Hamburg nicht in die Ukraine reisen dürfen, unsere Kolleg*innen von der UN allerdings schon. Zum Glück haben wir ein lokales Team in Kyjiw. Aber die Vertrauensbildung mit den Menschen vor Ort, die für uns immer zentral ist, wird dadurch erschwert. 

Auch arbeitet das Team in der Ukraine unter erschwerten Bedingungen. Das Leben in Kyjiw ist zeitweise zwar fast normal, zwischendurch müssen die Menschen aber immer wieder in den Luftschutzbunkern Schutz suchen, der Strom fällt aus oder persönliche Betroffenheit unterbrechen die Zusammenarbeit. Auch die ukrainischen Mitarbeitenden in Hamburg sind solchen mentalen Belastungen ausgesetzt. Viele Menschen haben Angehörige verloren, unzählige haben inzwischen das Land verlassen und einige arbeiten unter lebensbedrohlichen Bedingungen. An einer von der Körber-Stiftung organisierten Veranstaltung hat die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk gerade betont, wie wichtig es aufgrund der langen Dauer des Krieges weiterhin ist, die Zivilgesellschaft zu stärken und in diesem Kontext auch über den Wiederaufbau zu sprechen.

Was die Studie einer ukrainischen NGO kritisiert

Die ukrainische NGO, Ro3kvit, die sich nach dem russischen Angriff 2022 gegründet hat und aus circa 80 Expert*innen mit Bezug zu Stadt- und Regionalentwicklung besteht, setzt sich explizit für den Wiederaufbau urbaner und ländlicher Strukturen ein. Ro3kvit hat jüngst in der sehr kritischen Studie Trends in Spacial Planning in Recontruction Processesbetont, dass sowohl die Zusammenarbeit zwischen den Planer*innen, als auch zwischen diesen und den lokalen Gemeinden und der Regierung und ebenso mit den internationalen Organisationen viele Defizite aufweist. Intransparente Prozesse, wenig Wertschätzung lokaler Expertise, wenn internationale Expert*innen auftreten, oder unkoordinierte Aktivitäten von Organisationen wurden hervorgehoben. Auch wurde kritisiert, dass mehr in die Ausbildung mit Bezug zu Stadtentwicklung und Wissensaustausch mit (externen) Expert*innen gewünscht ist. 

Dem versuchen wir nachzukommen, in dem wir eine Kooperation mit der Kyiv School of Economics eingegangen sind und dort in einem neuen englischsprachigen Masterstudiengang Urban Studies and Postwar Reconstruction ein Online-Modul zu Urban Data Science unterrichten. Der Studiengang richtet sich an alle, die eine Karriere in der Stadtentwicklung anstreben oder später in Beratungs-, Architektur- und Planungsbüros arbeiten möchten. Wir stellen dort die Themen Datenökosysteme, digitale Ko-Kreation von urbanen Räumen, Datenvisualisierung und -kommunikation durch Storytelling oder auch Themen wie Daten-Governance und Ethik vor. Der Lehrplan befähigt die Studierenden dazu, die komplexen Herausforderungen der nachhaltigen Stadtentwicklung und des Wiederaufbaus nach dem Krieg, die Entwicklung sozialer städtischer Räume und der Erforschung städtischer Migrationsprozesse zu bewältigen. Wir leisten gerne einen Beitrag dazu, mit den ukrainischen Studierenden in den Dialog zu treten und so über eine Zukunft nach dem Krieg zu diskutieren.

 

Gesa Ziemer ist Professorin für Kulturtheorie und leitet an der Hafencity Universität Hamburg seit 2015 das City Science Lab, das die Veränderung von Städten durch die Digitalisierung erforscht. Seit 2021 fungiert sie als akademische Leiterin für UNITAC Hamburg, ein Innovations- und Technologieakzelerator der Vereinten Nationen für Städte mit UN-Habitat.

 

Prof. Dr. Gesa Ziemer
HafenCity Universität

Henning - Voscherau - Platz 1

20457 Hamburg

Germany

 

 

gesa.ziemer@hcu-hamburg.de

www.gesa-ziemer.com